“Ich möchte, dass niemand etwas trägt, das mit unserem Blut hergestellt ist.”

Das ist die Stelle, an der die junge Frau ihre Tränen nicht mehr zurückhalten kann. Es ist der Moment, in dem mir klar wird, dass ich endlich mit der Scheiße aufhören muss. Shima kommt aus Bangladesch. Shima näht meine T-Shirts. In ihrer Stadt ist 2013 die Textilfabrik eingestürzt, die mehr als 1000 Menschen unter sich begrub. Ich sehe mir den Film “The True Cost” an und ich weiß nicht, ob ich heulen, kotzen oder etwas werfen soll. Es widert mich an. Ich widere mich selbst an.

Eigentlich ist es mir schon lange klar: Ich muss aufhören, mit meinem Konsum das Elend anderer Menschen zu finanzieren – besonders, wenn es um puren Luxus wie Mode geht. Brauche ich auch nur einen einzigen Fummel von Zara oder Topshop, um gesund und glücklich zu sein? Die Antwort ist so einfach und doch habe ich es jahrelang vor mir hergeschoben, sie mir zu geben. Verdammt, natürlich brauche ich das alles nicht. Ich kann und werde jetzt sofort aufhören, Fast Fashion zu kaufen. Oder?

Kurz überlege ich, ob ich nicht doch – immernoch – zu faul bin. Ob das Einkaufen bei H&M und Co nicht einfach zu bequem, zu günstig, zu schön für mich ist, um es komplett aufzugeben. Nie wieder eine tolle Übergangsjacke von ONLY, nie wieder diesen H&M Basic Pulli nachkaufen, der mir so wunderbar passt? Energie aufwenden, um selbst Socken und Unterwäsche anderswo zu finden? Ganz schön anstrengend. Verdammt, sogar meine Nikes sind betroffen. Gibt es ähnlich schöne und bequeme Schuhe überhaupt in fair? Im nächsten Moment will ich mich für diese Gedanken ohrfeigen. Irgendwann muss doch etwas anderes wichtiger sein als meine eigene Faulheit und Eitelkeit. Irgendwann ist für mich jetzt.

Denn spätestens nach dieser furchtbaren Dokumentation ist für mich der Punkt gekommen, an dem ich nicht mehr in den Spiegel schauen kann, wenn ich so weitermache. Wer nicht getriggert werden möchte, sollte den folgenden Text nicht lesen. Ich will mit diesem Artikel niemanden belehren oder mich auf ein moralisches Podest stellen – im Gegenteil, ich will mir selbst noch einmal den wahren Preis des T-Shirts, das ich auf dem Artikelbild trage, vor Augen führen.

Ein paar Fakten zur Fast Fashion Industrie:

  • Die Arbeiter in den Sweatshops von Bangladesch und Kambodscha verdienen weniger als 2 Dollar am Tag unter miserablen bis gefährlichen Arbeitsbedingungen. Sie können sich nicht mehr um ihre Kinder kümmern, für die sie diese Arbeit eigentlich machen – für eine bessere Zukunft.
  • Mehr als 1000 Menschen starben beim Rana Plaza Unglück 2013 unter den Trümmern einer Kleidungsfabrik in Bangladesch. Viele weitere haben ihr Leben in anderen zusammenbrechenden oder brennenden Fabriken gelassen.
  • Als Shima und ihre Kolleginnen bessere Arbeitsbedingungen fordern, schließen die Manager die Türen ab und schlagen die Frauen zusammen. In Kambodscha werden Arbeiter, die für den Mindestlohn demonstrieren, verhaftet oder erschossen. Das Land ist abhängig vom Textilexport und ignoriert das eigene Gesetz, damit die Marken nicht in andere Länder gehen.
  • Indien produziert Unmengen an Baumwolle für die Großkonzerne der Textilbranche. Baumwolle wird mit Pestiziden behandelt, um Schädlinge abzuwehren. Je mehr Pestizide, desto immuner wird die Pflanze, umso mehr Pestizide werden benötigt. Die Menschen werden krank von diesem Gift.
  • Unzählige Kinder, die in solchen Baumwollanbaugebieten geboren werden, sind geistig und körperlich schwerbehindert.
  • Die Firmen, die die Baumwollsaat verkaufen, verkaufen auch die Pestizide und die Medizin für die Krankheiten, die von den Pestiziden ausgelöst werden. Viele der Bauern verlieren irgendwann ihr Land, weil sie bei dem Konzern Schulden haben. Nicht wenige von ihnen trinken dann die Pestizide.
  • In Entwicklungsländern stapelt sich der Müll. Und zwar nicht nur der Plastikmüll, nein, Kleidung. Berge von Textilien, die wir gespendet haben, um unser Gewissen zu beruhigen – die aber niemand mehr braucht, weil wir einfach viel zu viel haben.
  • Die Produktion von billigem Leder verseucht zum Beispiel in Indien das Wasser und macht weitere Menschen krank. Hautkrankheiten, Magenerkrankungen und Krebs verbreiten sich dort wie eine Seuche.
  • Die Herstellung von Kleidung ist, so wie sie aktuell stattfindet, eine der größten Umweltbelastungen überhaupt.

Quelle: The True Cost (aktuell auf Netflix verfügbar)

Ja, viele dieser traurigen Tatsachen waren mir schon vorher bekannt. Aber nicht wirklich bewusst. Denn ohne die Bilder zu sehen, ohne die Frau zu sehen, die weinend sagt, dass sie nicht möchte, dass ich Kleidung trage, an der ihr Blut klebt, konnte ich ihre furchtbare Realität von meiner eigenen trennen.

In meiner Realität ist die High Street ein Ort der Erholung, Shopping ein Freizeitsport. In meiner Realität schaut man sich zur Unterhaltung und “Inspiration” Youtuber an, die ihren neuesten Haul von 20 Teilen zeigen. Die Realität der Frau, die dafür keine 20 Euro bekommt, die ihr Kind weggibt oder es mit in den giftverseuchten Sweatshop nimmt, wo es auf dem harten Boden schläft, kann man in dieser Hochglanzwelt ganz gut von sich wegschieben. Am Black Friday rennen tausende Menschen bei Ladenöffnung wie von Sinnen in die Geschäfte und kaufen sich dumm und blöd. Weil es billig ist und wir immer mehr brauchen – obwohl in Entwicklungsländern ganze Landstriche von Textilmüll bedeckt sind, den wir “ausgemistet” haben. Aus den Augen, aus dem Sinn. Und selbst die Kinder in diesen Ländern stellen immer mehr für uns her. Ihre Mütter ackern vergeblich für eine bessere Zukunft, in der wenigstens die Kinder menschenwürdig behandelt werden. Ihre Väter bringen sich wegen uns um.

Die Gegenüberstellung der beiden Welten widert mich an.
Meine eigene Dekadenz widert mich an.

Ich fühle mich schuldig an dem, was diesen Menschen passiert. Weil ich bequem in einer 20 Meter Schlange am Ende der Warenausgabe stehe und mich verhalte, als würde ich den Anfang der Kette nicht kennen. Weil es mir anscheinend scheißegal ist, so lange die mega langsame Kassiererin, die mich an diesem Samstag ja sowas von nervt, am Ende mein 5 Euro T-Shirt über den Scanner zieht.

Wieso ich für diese Erkenntnis so lange gebraucht habe? Verdrängung, Faulheit, Egoismus – you name it. Für mich steht fest: Ich will nicht irgendwann meine Kinder in Klamotten stecken, für deren Produktion andere Kinder schwerbehindert zur Welt kommen. Ich will keinen Cent mehr in das Elend anderer Menschen investieren.
Und ich werde mir keine faulen Ausreden mehr erlauben. Ich habe nicht zu wenige Möglichkeiten. Ich habe nicht zu wenig Geld, um fair zu kaufen. Ich habe jetzt in diesem Moment schon genügend Kleidung, um die nächsten drei Jahre überhaupt nichts kaufen zu müssen, das ich mir nicht leisten kann.

Die Lösung ist nicht einfach. Die Lösung ist sicher nicht, dass niemand mehr in Entwicklungsländern produziert. Aber wer weiß. Vielleicht ist es nicht “nie wieder H&M”. Vielleicht müssen auch die Textilriesen irgendwann anfangen, Verantwortung zu übernehmen. Vielleicht werden sie irgendwann einsehen, dass man mit Menschenleben nicht handeln darf und die moderne Sklaverei, die sie betreiben, auch von uns, die eigentlich davon profitieren, nicht mehr toleriert wird. Leider reicht es nicht, diese Hoffnung zu haben. Und weiter zu kaufen. Deshalb mache ich an dieser Stelle Schluss mit Fast Fashion. Ich kaufe ab jetzt nur noch fair produzierte Kleidung.

Sicherlich hat der Boykott des Einzelnen einen verschwindend geringen Effekt.
Aber wie wäre es, wenn wir Fairness und Menschlichkeit zum Trend machen?

Porträt: Johannes Fucke