Ich liebe meinen Job. Seit drei Jahren – fünf, wenn man Praktika und Studentenjobs mitzählt – arbeite ich in der Kreativbranche und fühle mich dort echt wohl. Es gibt nur eine Situation, die mich immer wieder aufregt: das Mitarbeitergespräch. Denn dabei wurde bisher immer eine Eigenschaft angesprochen, die ich hier eigentlich gar nicht diskutieren will – weil meine Persönlichkeit nicht zur Debatte steht. Und doch bin ich jedes Mal gezwungen, sie zu benennen und zu rechtfertigen.

Wenn ich im Internet erzähle, dass ich introvertiert bin, dann habe ich das Glück, dass meine Zielgruppe etwas damit anfangen kann. Vielen Lesern geht es genauso, andere haben sich zumindest schon einmal mit dem Thema auseinandergesetzt. In der Welt da draußen, besonders in der Arbeitswelt, sieht es anders aus: “Introvertiert” ist dort immer noch ein Wort, das inflationär falsch gebraucht und noch öfter falsch verstanden wird. Nämlich als erwachsenes, höflich gemeintes Synonym für “schüchtern”.

Von seinen Chefs “introvertiert” genannt zu werden, ist keine einfache Beschreibung, sondern eine Diagnose.

Nämlich eine Diagnose zum Underachiever. Dabei gilt mindestens ein Drittel der Bevölkerung als introvertiert (1). Hören die sich eigentlich alle den gleichen Unsinn an wie ich? 

Es gibt da etwas, das nenne ich das Feedback of my life. Und ich weiß nicht, ob ich es längst nicht mehr ernst nehmen sollte, weil es eigentlich ein bisschen witzig ist, dass den Leuten nichts anderes einfällt, oder ob es tatsächlich mein größter Fehler ist, der alles, was ich leiste, überschattet.

Das Feedback, das sich von der Grundschule übers Studium bis hin zu meinen Jobs zieht, ist: ‘Du bist zu still.’ Der konstruktive Teil soll sein: ‘Komm doch mal mehr aus dir raus. Du bist so kompetent, du musst dich nicht verstecken.’ Hä?

Ja echt: Hä. Ich verstehe es nicht. Wieso sehen andere Teammitglieder mich denn angeblich nicht, nur weil ich nicht ständig schreiend durch die Agentur renne oder in jedem Meeting meinen Redeanteil künstlich hoch halte?

Wenn meine Ideen und Argumente untergehen, nur weil ich sie weniger penetrant platziere als andere – liegt das Problem dann wirklich bei mir?

Ich glaube nicht. Ich verstecke nämlich nichts. Ich rede nur nicht ununterbrochen.

Vielleicht ist es die Brille des Vorgesetzten, die hier schief hängt. Weil sie nicht auf die tägliche Teamzusammenarbeit gerichtet ist, von der die Chefs naturgemäß wenig mitbekommen, sondern auf eine theoretische Ebene, die da heißt: Wer laut schreit, wird von allen gehört, sogar von uns – also sind die Lautesten am erfolgreichsten. 

Es ist so: Ich bin nicht einfach nur still, weil ich mir das als Karriere- oder Lebensstrategie so ausgedacht habe. Ich bin öfter still als andere, weil ich introvertiert bin. Introversion und Extraversion bilden eine sogenannte Persönlichkeitsdimension, die Positionierung auf welcher man nicht beeinflussen kann. Weil es keine anerzogene und damit formbare Charaktereigenschaft beschreibt, sondern ein inneres Bedürfnis, das schlicht in der Funktionsweise meines Gehirns begründet ist (2).

Ich kann also nichts dafür. Das macht es aber noch lange nicht pathologisch.

Denn genauso wenig, wie ich etwas dafür kann, muss ich etwas dagegen tun. Meine Introversion gehört zu mir und es gäbe keinen Grund, sie mir abzugewöhnen, selbst wenn es ginge.

Ich glaube nämlich nicht, dass meine Kollegen nicht sehen, was ich kann. Introvertiert zu sein heißt nicht, dass ich Angst vor sozialen Kontakten habe. Es ist auch nicht so, dass ich mich nicht traue, meine Meinung zu sagen und selbstsicher mit Kollegen oder Kunden zu reden, wenn es darauf ankommt. Introvertiert zu sein, bedeutet nicht, dass ich unkommunikativ bin, erst recht nicht, dass ich mich absichtlich ausgrenze. Ich genieße und suche den Austausch mit anderen. Nur eben nicht rund um die Uhr und mit zwanzig Leuten auf einmal. 

Es gibt nur eine einzige Sache, die ich mehr brauche als andere: zwischendurch mal meine Ruhe. Denn so lade ich meine Akkus wieder auf. Nicht mehr und nicht weniger. Während Extravertierte von Gesprächen, von lauten Umgebungen und Außenreizen weiter elektrisiert werden, muss ich manchmal die energetische Notbremse ziehen und meine Aufmerksamkeit nach innen richten, weil ich sonst aus den Latschen kippe. Da drinnen ist es übrigens so schön, dass ich es mir gerne mal gemütlich mache.

Ja, wirklich: es geht mir gut!

“Was ist denn los? Du bist so still.” Dieser Satz löst in mir den Impuls aus, zu schreien. Es gibt Zeiten, in denen ich ihn täglich höre. Ich hasse diese nett gemeinte Nachfrage inzwischen so sehr, dass ich von Mal zu Mal gereizter reagiere. Was niemandem hilft, aber ich möchte auch nicht jeden Tag Wikipedia verlinken müssen (3). Vielleicht sollte ich es mir ja doch auf die Stirn tätowieren lassen: “Ich bin IN-TRO-VER-TIERT und ja, es geht mir gut! Heute übrigens genauso wie gestern!” So viel Platz ist aber nicht einmal auf meiner Denkerstirn, also bleibt es wohl vorerst bei einem leicht genervten “Nichts!” 

An dieser Stelle könnte ich einen weiteren Artikel zum Thema: “Wie man einer introvertierten Person schlechte Laune macht” schreiben. Kurzfassung: indem man ihr schlechte Laune unterstellt. Uns ständig zu fragen, warum wir so still sind, ist in etwa so, wie jemanden mit einem Resting Bitch Face drei Mal täglich zu interviewen, wieso er schon wieder so schaut. Hallo, ich bin’s! Nur ich! Lass mich bitte einfach so sein. 

Still sein ist weder ein Zeichen von mieser Laune, noch ist es ein Zeichen, dass ich mich nicht traue, etwas zu sagen. Öfter still zu sein als andere ist kein Makel, sondern schlicht und ergreifend eine natürliche Verhaltensweise, die mit einer introvertierten Persönlichkeit mitkommt.

Herzlichen Glückwunsch! Das gibt’s von Introvertierten gratis:

Die Tatsache, dass ich nicht bei jeder Gelegenheit die Klappe aufreiße, hat nämlich auch den netten Nebeneffekt, dass ich anderen viel zuhöre. Und das macht mich überdurchschnittlich empathisch. Weil ich es gewohnt bin, stark über meine eigenen Bedürfnisse zu reflektieren, erkenne ich auch die von anderen.

Ich beobachte, anstatt im Mittelpunkt zu stehen. Das qualifiziert mich für meinen Job als User Experience Designerin nicht trotzdem, sondern ausgesprochen.

Auch, wenn dieser Job in einem Agenturumfeld stattfindet, wo man im ersten Moment vielleicht ausgeflipptere Leute erwartet. 

Meine leise und überlegte Art löst Probleme im Projekt und Konflikte im Team oft effektiver, als die laute und dramatische – was nicht heißt, dass ich im Notfall nicht auch mal den Mund aufmache, um für mich oder andere einzustehen. Wenn ich in einer Gemeinschaft angekommen bin, bin ich extrem loyal.

Im richtigen Umfeld oder mit dem richtigen Kopfhörer kann ich mich über Stunden auf eine Aufgabe fokussieren und sie meist eigenständig lösen. Dass ich Gespräche vorher im Kopf durchgehe und ständig innere Monologe führe, macht mich zu einem ziemlich starken Diskussionspartner – im Team und gegenüber Kunden.

Spätestens, wenn ich über ein Thema rede, das mich bewegt, oder meine Fachkenntnisse präsentieren kann, werde ich glänzen.

Dann werden sie mich loben und sagen, dass ich “ja richtig aus mir raus komme”. Und ich würde gerne fragen: Wo raus? Denn meine wenigen lauten Momente gehören genauso zu mir wie meine vielen stillen.


Quellen

1: SPIEGEL: Leise Töne, starke Wirkung (20.07.2015)

2: vital.de: Introvertiert und extrovertiert

3: Wikipedia.org: Introversion und Extraversion

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Dieser Artikel erschien erstmals im Conscious Club Magazin (inzwischen offline).