Manche Dinge wachsen, wenn man nicht hinsieht. Mein Alltag scheint sie zu verschlucken: diese kleinen Momente, in denen ich spüre, dass sich etwas verändert hat. Die Nacht, in der ich zum ersten Mal träume, dass einer neuen Person in meinem Leben etwas Schlechtes passiert; die Erleichterung beim Aufwachen. Die Landung in einer Stadt, die sich nach vier Jahren ganz anders anfühlt. Und plötzlich die Erkenntnis, dass die Beziehung zu Orten sich genauso verändert wie die Beziehung zu Menschen…

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Ich lebe seit zweieinhalb Jahren in Hamburg. Ich habe nicht vor, daran etwas zu ändern. In anderen Worten: Ich habe mich niedergelassen. Ein bisschen albern, das nach einer doch recht überschaubaren Zeitspanne so zu schreiben, aber wenn ich mir die Zeit vorher anschaue, ist Hamburg seit meinem Abitur immerhin die zweitlängste Station – und an Tübingen war ich durch das Studium für drei Jahre gebunden. Was mich nicht davon abhielt, wenigstens ein Auslandssemester einzuschieben.

Ich habe mir Hamburg ausgesucht, bin gekommen und geblieben. Aus Vorfreude wurde fast sofort Alltag, aber nie schlechter (erinnert mich, wenn ich mal wieder übers Wetter fluche). Es war schon aufregend, aber es war auch fix: Hier bin ich, hiermit arbeite ich, hier bleibe ich. Und je alltäglicher das Leben wird, desto seltener muss ich mich daran erinnern. Es ist nun einfach so: Je mehr mich ihr Alltag fordert, je mehr Menschen in ihm auftauchen, desto mehr verwachse ich mit der Stadt. Und darüber war ich immer froh, weil Hamburg einfach der beste Ort ist, um zu bleiben.

Nur manchmal, da packt es mich. Meistens passiert es dann, wenn wieder irgendjemand nach New York, Cape Town oder Barcelona zieht. Dann frage ich mich: Ist das hier genug? Stichwort #FOMO, klar, aber vielleicht auch ein bisschen mehr als das. Denn als eine wichtige Person darüber nachdachte, ausgerechnet dahin zu gehen, wo ich immer hin wollte… stand ich plötzlich Kopf. Sollte ich mit? Wenigstens für ein Jahr? Nochmal etwas anderes sehen, etwas ganz Neues machen, ausbrechen? London – das war nicht nur ein Kurzurlaub, sondern ein Test.

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Das Flugzeug berührt die Landebahn. Und da ist auch wieder mein Gefühl, nur viel zurückhaltender als sonst. Dieses Ziehen im Bauch, das unverhinderliche Grinsen, die Vorfreude, etwas Vertrautes und Heimeliges gemischt mit purer Aufregung. Das letzte Mal spürte ich es bei einer Landung in Hamburg, vor etwa einem Jahr, und dachte: “Verdammt, das kann sonst nur London”. Aber kann London es noch?

Rough Trade EastLondon tube

Vor vier Jahren war ich zuletzt hier. Und habe es nie zurück geschafft. Gar nicht, weil ich nicht gekonnt oder nicht gewollt hätte, aber es gab andere Ziele, neue, die wichtiger waren. Ich wusste, dass ich wiederkommen würde. Dass es nicht schwer sein würde. Und das war es auch nicht. Die neun Tage in meiner ehemaligen Lieblingsstadt gingen schnell vorbei; ich habe das meiste davon genossen, besonders die Orte, die ich früher schon mochte. Aber nicht alles, was ich 2014 regelrecht anbetete, konnte 2018 noch so richtig glänzen.

Die U-Bahn? Auch nicht viel krasser als in Hamburg. Das Essen? Eh schwierig. Die High Street? Wie überall – und für mich inzwischen uninteressant. Was damals in England war, scheint heute nicht mehr wirklich zu sein. Alles hat sich verändert – am meisten ich mich. Manchmal denke ich, dass man überall, wo man weggeht, auch ein kleines Leben zurücklässt. Und irgendwann… hat man mit diesem Leben nicht mehr viel zu tun.

Deshalb weigere ich mich bisher auch, nach Leeds zu fahren. Ich möchte es nicht als Geisterstadt wiedersehen. Mein Auslandssemester war perfekt, Leeds ist damit abgeschlossen. London blieb für mich immer ein unerreichtes Ideal, der ganz große Traum, das Life Goal, wenigstens auf Zeit. Dass es das jetzt nicht mehr wirklich ist, hat vielleicht ein wenig damit zu tun, dass ich mich an einen Lebensstandard gewöhnt habe, den ich dort sofort wieder vergessen müsste, ein bisschen auch damit, dass ich überhaupt keine Londoner mehr kenne. Aber allen voran ist es die Tatsache, dass ich London im Moment nicht brauche. Ich bin nicht auf der Suche. Ich habe ein Zuhause, das ich nicht mehr nur absichtlich mag, sondern wirklich liebe.

Habe ich in London also einen Lebenstraum aufgegeben? Vielleicht. Und wahrscheinlich ist das überhaupt nicht schlecht. Weil ich nicht einfach so nebenbei meine Träume aufgebe, sondern erst langsam greifen kann, dass das Gute genauso wenig in allgemeingültigen Superlativen liegt, wie das Schlechte in Stereotypen. Wieso zählt oft nur der perfect match, den man bei einem epischen Selbstfindungstrip entdeckt und danach mit der ganzen Welt teilt? Was, wenn ich nicht nach London, Canggu oder Vancouver muss, um mich zu finden, weil ich längst hier bin und es reicht, mir das bewusst zu machen? Und manchmal einen kleinen Reality Check zu fahren.

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In der Zeit, in der London etwas verloren hat, hat Berlin etwas gewonnen. Etwas Abstraktes, das ich kaum bemerkt hätte, wäre ich nach zwei Jahren der Abneigung nicht wieder hingefahren, aber auch etwas sehr Greifbares: Meine Freundin Caro. Ich kann das schwer erklären, weil wir nicht die Sorte Freunde sind, die sich ständig sehen oder hören. Aber überall, wo Caro hingeht, bringt sie ihre Inspiration mit. Es geht nicht um die Couch, die ich gewonnen hätte. Die Perspektiven anderer – verändern nur einfach meine eigene. Ich kann Berlin jetzt milder begegnen als 2015, als ich für drei Monate dort lebte und es nicht ausstehen konnte. Bei meiner Rückkehr, irgendwo in den Straßen Neuköllns zwischen veganem Restaurant und ranzigem Späti, spüre ich: Ich bin endlich nicht mehr wütend auf die Stadt.

Berlin Hackescher MarktBerlin Falafel

Im letzten halben Jahr war ich dann vier Mal in Berlin: Ein Mal alleine für einen UX Hackathon, mit Caro und ehemaligen Kolleginnen beim Zeit-Festival Z2X, ein Wochenende mit meinem Freund und zuletzt noch mit Freunden. Keiner der Besuche hat es geschafft, mir die Freude am Berlinhassen wiederzugeben. Stattdessen spürte ich jedes Mal ein bisschen mehr Vorfreude. Ich wollte es im ersten Moment kaum zugeben, aber es breitete sich einfach aus und konnte selbst von der Stadt nicht mehr zerstört werden. Die Busfahrer, die stickigen U-Bahn-Stationen und der eisige Ostwind haben wie immer alles gegeben, aber: Ich konnte gar nicht anders, als fasziniert zu sein von der kreativen Atmosphäre, happy über die Leute, die ich kennenlernen oder wiedersehen durfte. Es sind natürlich die Menschen, die dort sind, die eine Stadt attraktiv machen. Und die Menschen, die ich mitnehme…

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Abstand. Er macht mehr gut als er nimmt. Sowohl von London als auch von Berlin habe ich eine Distanz gebraucht, die meine Perspektive gerade rückt, die mir sowohl blinde Wut als auch bedingungslose Verehrung von den Schultern nimmt, weil beides nicht passt. Ich muss mich weder verbeißen noch nach etwas sehnen, das es nicht gibt.

Und das schönste Gefühl ist, dass es auch umgekehrt funktioniert: Nach Hamburg zurückzukommen, tut immer gut. Nicht nur in dem Sinn, dass ich froh bin meine Wohnungstür aufzuschließen und in mein eigenes Bett zu fallen, oder dass ich mich hier endlich wieder legitim über das Wetter beschweren kann, ohne es allzu ernst zu meinen. Ich finde vielleicht gerade zum ersten Mal abseits der Heimat ein Zuhause, in dem nicht nur ich, sondern auch die anderen bleiben. Hamburg ist kein Zwischenstopp, von dem nach drei Monaten bis drei Jahren alle wieder abhauen. Wir bleiben. Und entdecken die Stadt gerade mit jedem langersehnten Sonnenstrahl neu.