Aktivismus statt Perfektionismus: Warum wir für Nachhaltigkeit und Gleichheit auf die Straße müssen

Während ich diesen Artikel schreibe, esse ich einen veganen Burrito vom Lieferservice. Leider kam er nicht nur in einer Pappschachtel, sondern sogar in Styropor. Das ärgert mich und ich schäme mich für die Umweltsünde. Wäre es ökologischer gewesen, selbst zu kochen? Ja. Aber hätte ich es dann auch noch geschafft, den Artikel zu schreiben und meine Wäsche zu waschen? Nein. Mir wäre wieder einmal auf halbem Weg die Energie ausgegangen – und das passiert mir oft.
So ein Tag hat 24 Stunden. Ich sage häufig, dass wir als Konsument*innen mündig sind und unseren Einfluss – ergo die Nachfrage – für ökofaire Ideen und gegen unsoziale und umweltschädliche Bedingungen einsetzen müssen. Vor dem Kauf informieren, Alternativen wählen, nachhaltig denken – das muss doch für die meisten machbar sein. In der Realität stellt sich heraus: Jeder hat zunächst einmal ein Leben, das er täglich managen muss und das Zeit und Kraft kostet. Auch wenn einige dabei privilegierter sind als andere. Der alltägliche Struggle kommt zuerst – auf welchem Niveau er sich auch befinden mag.
Und so war ich in den letzten Jahren selbst sehr oft an einem Punkt der Erschöpfung, an dem ich mich zwar extrem bemüht hatte. Ich hatte mal wieder einen Samstag mit dem Pendeln zwischen verschiedenen Unverpackt-Läden verbracht. Ich hatte drei ganzen Abende nach einem Second Hand Tisch gesucht und ihn später mithilfe eines Freundes in den dritten Stock geschleppt. Ich hatte mein eigenes Gemüse angepflanzt, war wie immer jeden Tag mit den Öffentlichen zur Arbeit gefahren und am Wochenende noch mit dem Zug nach Stuttgart. Das alles gibt mir trotz der Anstrengung am Ende meist ein gutes Gefühl. Gleichzeitig ist es ein beschissenes Gefühl, weil ich weiß: Es ist nicht skalierbar.
Man kann diesen von mir beworbenen Lifestyle tatsächlich erst annehmen, wenn man in der Bedürfnispyramide sehr weit oben angekommen ist. Das macht die (zeitnahe) Verantwortung des Verbrauchers global undenkbar – und ehrlich gesagt scheitert es auch nicht erst beim Recycling in Myanmar, sondern schon bei meinen Freunden in Ottensen und bei meiner Familie auf dem süddeutschen Dorf. Man muss sich ständig bewusst dafür entscheiden, es anders zu machen, und auf dem Land sind dazu selbst in Deutschland die Möglichkeiten begrenzt. Ich schaffe es nicht, jede Person zum Handeln zu bewegen. Ich schaffe es noch nicht einmal bei meinen Freunden. Und an manchen Tagen auch nicht bei mir selbst.
Die Wirtschaft, wie sie derzeit ist, macht schlechte Entscheidungen sehr viel einfacher als gute. Der Standard ist unfair und unökologisch. Und diese Tatsache verlangt kritischen Konsument*innen einen Mehraufwand ab, der eigentlich nicht bei ihnen liegen darf. So lange das so ist, werden Menschen sich gegen den Umweltschutz und die Rechte anderer entscheiden. Weil sie es können, oder weil sie nicht anders können.
“Lieber Staat, ich möchte, dass du mich und alle anderen in die Schranken weist. So, wie ich nicht wahllos auf der Straße Menschen ermorden darf, sollte ich auch nicht in der Lage sein, durch meine Handlungen indirekt bzw. doch irgendwie ziemlich direkt Menschen auf der anderen Seite des Planeten zu ermorden. Ich sollte keine Kleidung kaufen dürfen, an denen das Blut der Produzent*innen klebt. Ich sollte keine Lebensmittel kaufen dürfen, die nachfolgenden Generationen die nahrhaften Böden austrocknen. Keinen Konzernen Geld in die Kassen spülen können, die anderen das Wasser abgraben.”
Jennifer Hauwehde, Mehr als Grünzeug
Ich dachte immer, ich dürfte erst politisch werden, wenn ich so richtig Ahnung habe. Ich habe lange vorausgesetzt, dass ich zuerst alle fachlichen Zusammenhänge kennen und das politische System en detail verstehen muss, bevor ich es mir erlauben kann, mich einzumischen. Politisch sein zu wollen, war mir unangenehm. Bei dem Versuch, zuerst selbst alles richtig zu machen und damit meinen und den Ansprüchen anderer zu genügen, habe ich mich in der Vergangenheit oft so verausgabt, dass ich es gar nicht mehr schaffen konnte, einen politischen Gedanken zu fassen. Ich habe in diesem Jahr endlich angefangen, das zu ändern. Das Engagement für die Fashion Revolution Week und die daraus entstandene Demo haben mir gezeigt, wie konsequent die Richtung ist, in die ich mich damit bewege.
Der Impact ist schlicht zu klein, wenn wir uns darauf beschränken, auf Instagram faire Outfits und vegane Rezepte zu teilen und damit bei dem bleiben, was wir schon können. Es ist ein merkwürdiger Rückzug ins Private, wenn jeder nur auf sich schaut und durch gut gemeinte Selbstoptimierung von zuhause aus versucht, das Klima zu retten. Was sich als die Verantwortungsübernahme der Konsument*innen verkaufen lässt, ist am Ende auch die Verantwortungsverweigerung der Bürger*innen. Besser einzukaufen ist schon toll, aber es reicht nicht. Wir müssen politisch werden. Nicht nur (aber unbedingt auch) wählen gehen. Die Politik im Alltag mitgestalten.
Wir müssen auf die Straße – und in die Parlamente, wie Margaux Jeanne Erdmann es in ihrem Blitzvortrag nach der Demo zusammenfasste. Ich wiederhole diesen Satz heute genauso sehr für mich, wie ich ihn an alle Lesenden schreibe. Wenn wir alle nach einem langen Tag nur noch ein bisschen Energie übrig haben, dann lieber für die Unterschrift einer Petition, als für ein paar Instagram-Kommentare innerhalb der Öko-Bubble. Es ist am Ende in vielen Fällen effektiver, in der Fast Fashion Jeans zur Demo zu kommen, als in der Fair Fashion Jeans zuhause zu sitzen. Niemand muss perfekt sein. Aber politisch müssen wir den Hintern hochkriegen.
Titelfoto: Lena Scherer
4 Comments
Danke, dass du mir Mut machst politisch aktiver und allgemein LAUTER zu werden. Das ist beides etwas, was mich aus meiner Komfortzone bringen wird. Aber ich werde versuchen so viel zu tun wie ich kann.
Liebe Grüße, Christine
https://uponmylife.de/
Word.
… und wie sagt man so schön: Rom wurde auch nicht an einem Tag erbaut – in diesem Sinne, eins nach dem anderen.
Du hast ja soooo recht… Vielen Dank für den inspirierenden Post! Das wird mein Vorsatz fürs nächste Jahr- endlich den Hintern hochbekommen!