“Lesen ist sexy” steht auf dem Lesezeichen, das ich zuhause noch schnell in Angela Chens Buch stecke, bevor ich es mit in mein Berlin-Wochenende nehme. Die Ironie fällt mir erst auf, als ich es das dritte Mal raushole. Der Untertitel “What Asexuality Reveals About Desire, Society and the Meaning of Sex” hat hiermit schon seinen ersten Punkt gemacht: Sex ist überall. Sexuelles Verlangen wird so selbstverständlich unterstellt, dass Sex zur geheimen Motivation aller Handlungen erklärt wird – selbst solcher, die damit rein gar nichts zu tun haben.

Sex is the thing that makes the world go round. Das wird oft so dargestellt, in der Popkultur und im Privaten, wo quasi kein Abend im Restaurant vergehen kann, ohne über Dates, Liebe und Sex zu sprechen. Es gibt aber auch Menschen, die diese Gefühle überhaupt nicht nachvollziehen können. Einige davon sind asexuell oder aromantisch. Ihnen ist das Buch von Angela Chen gewidmet, aber gerade auch die anderen, die Mehrheit, sollen etwas daraus mitnehmen. Und wow – bei mir hat’s funktioniert.

Mir war schon klar, dass Amatonormativität ein Problem ist. Dass romantische Beziehungen in unserer Gesellschaft über allem stehen, spüre ich regelmäßig. Dass Sex so omnipräsent ist, habe ich nie als Problem wahrgenommen, sondern eher als Gegebenheit. Weil die Minderheit, für die das anders ist, deutlich kleiner und weniger sichtbar ist als die, die von amatonormativen Lebensmodellen ausgeschlossen wird (= alle Singles). Und, na klar: weil es mich nicht betrifft.

Das Gedankenexperiment fand ich dennoch spannend. Was passiert mit dem Bild eines guten Lebens, wenn man den Sex wegnimmt oder ihn zumindest dezentriert? Welche Konzepte ergeben sich für das Zusammenleben in einer Gesellschaft, wenn Sex nicht mehr im Mittelpunkt steht? Sind asexuelle Menschen in diesen Fragen vielleicht klüger, weiser, realistischer als diejenigen, deren Gehirn ständig von Sex benebelt wird?

Ich muss an dieser Stelle aufpassen: natürlich sind Asexuelle, auch Aces genannt, keine besonderen Menschen. Auch das wäre eine Markierung als anders, und sie wäre falsch. In Angela Chens Buch wird glasklar: Aces haben dieselben Probleme, dieselben zwischenmenschlichen Schwierigkeiten, sie machen dieselben Fehler und kämpfen mit denselben Glaubenssätzen. Asexuelle Menschen sind weder weise, noch unschuldig.

Aber die Ace Community hat sich mit vielem auseinandergesetzt, für das Allos (Menschen mit sexuellem Verlangen) großteils blind sind. Eben, weil es sie weniger betrifft. Ihr seht, dass ich von “nicht betroffen” schon zu “weniger betroffen” gewechselt habe, und das liegt daran, dass die Zentrierung von Sex, und damit auch von sexuellen und romantischen Beziehungen, natürlich alle etwas angeht.

Meine Takeaways aus “Ace: What Asexuality Reveals About Desire, Society, and the Meaning of Sex” von Angela Chen.

Compulsory Sexuality schadet allen.

Dass sich alles ständig um Sex und das nächste Date drehen soll (Compulsory Sexuality), stellt nicht nur Asexualität als krankhaft, bemitleidenswert und falsch dar. Es hält eigentlich alle davon ab, auch in anderen Dingen Freude und Erfüllung zu finden.

Wie viele Stunden verbringen wir damit, mit unseren Freundinnen den aktuellen Love Interest zu analysieren – passt er, passe ich, was will er, was denkt er wohl? Würden wir uns diese Energie sparen, hätten wir vielleicht schon einen neuen Weg gefunden, CO2 zu binden oder wären bildende Künstlerinnen geworden. Etwas Großes wäre passiert, da bin ich mir sicher.

The ace movement, then, is in some ways a real-time experiment in the promise of the internet to bring together people to create a social movement and a new culture, one that pushes against societal obsession with sex and makes room for everyone – ace, allo, questioning – who wants the freedom to find pleasure in a different way.

Wie viel weniger toxisch wären Männer, wenn sie nicht ständig nur Sex wollen sollten, und Frauen, wenn sie damit keine Spielchen spielen müssten?

Sex ist (k)ein Maturity Narrative.

Angela Chen erzählt, dass der Sex, den sie (nicht) hatte, lange ihren Selbstwert als Feministin beeinträchtigte. Sie schreibt:

I read The Ethical Slut and blog posts promising to teach me how to “hack myself into being polyamorous,” and filled out worksheets to “map my jealousy” and try to contain it or, better yet, obliterate it. I believed that my desire for monogamy and disinterest in casual sex were not preferences worthy of honoring, but political and moral failings that must be overcome. I thought I was weak and stupid.

pp.61-62

Weil: dort wo früher Keuschheit geboten war, gehört es sich heute, Sex zu haben und Grenzen zu überschreiten. Die alten Ideale wurden nicht abgeschafft, sondern durch neue ersetzt. Es herrscht ein Zwang zur sexuellen “Progressivität” für die emanzipierte Frau, der die persönlichen sexuellen Wünsche und Entscheidungen politisch macht.

New rules are put in place. Finally, as this vision of sexual liberation dominated the feminist platform, not having sex – or only wanting vanilla sex or only having sex within the confines of monogamous, heterosexual relationships – becomes a sign that someone is allied with backward, conservative political beliefs. Sexuality, which is already a maturity narrative where sex leads to adulthood, then becomes a political maturity narrative as well, an evolution in thought and practice. An imaginary line runs from “immature,” both sexually and politically, to “fully realized.”

Es gibt keine Vorzeige-Asexualität.

In Gesellschaften, in denen Sex zur Identität und zum Bild eines gelungenen Lebens gehört, wird man nahezu niemanden finden, der gar keinen Sex hat und auch noch nie überlegt hat, welchen zu haben. Es gibt daher praktisch keine “gold star” asexuellen Personen, die immer genau nach ihrer Orientierung handeln.

Es gab in der Vergangenheit zudem Diskussionen darüber, ob Asexualität zum LGBTQ Spektrum gehört (der Konsens ist inzwischen ja, was durch die Erweiterung zu LGBTQIA+ angezeigt wird) und auch, ob Menschen mit Behinderung und Personen in Hetero-Beziehungen sich dazuzählen dürfen. Angela Chen argumentiert klar dafür.

Aromantische Personen leiden besonders stark unter amatonormativen Lebensmodellen.

Die Zentrierung der Paarbeziehung in der Gesellschaft tut vielen Menschen weh, weil sie alle, die außerhalb stehen, depriorisiert. Besonders schwierig ist es für aromantische Personen, die sich theoretisch nicht einmal für dieses Modell entscheiden können, und diese Wahllosigkeit in ihren übrigen sozialen Beziehungen zu spüren bekommen.

In the West, couples often pair up, marry, and then seclude themselves into a new, separate unit, sometimes retreating from their prior community of friends and family. With this as the norm, it becomes harder and harder for aros to build the social network they need. (…) Jo won’t be the one moving out to live with a romantic partner, and that makes her both value friendship more and become frustrated when others don’t value it as much.

Es ist nicht nur ein ganz praktisches Problem, das aromantische Personen (wie Singles) von WG zu WG, oder von Singlewohnung zu Singlewohnung treibt. Es ist auch das Gefühl, weniger geliebt zu werden. Einer anderen Person nie so wichtig zu sein wie ein romantischer Partner oder ein Familienmitglied, ist ein besonderer Schmerz. Beziehungen einer gewissen Qualität scheinen für aromantische Personen unerreichbar.

Aber muss das so sein? (Achtung, jetzt kommt’s.)

Auch platonische Beziehungen dürfen Regeln und Bedingungen beinhalten.

Das Bestehen auf absolute Unverbindlichkeit war auch in meinem Leben oft der Grund, warum Freundschaften endeten. Wenn platonische Beziehungen aber genau wie romantische und sexuelle Beziehungen Beziehungsgespräche, Commitment und Raum für sicheren Konflikt beinhalten würden, könnten sie eine ähnliche Geborgenheit bieten wie romantische Beziehungen.

Das Konzept, das Angela Chen in ihrem Buch vorstellt: Eine queerplatonic partnership stellt Verbindlichkeiten her, wo in vielen Freundschaften Schluss wäre – weil der romantische Partner vorgezogen wird oder weil das gesellschaftliche Bild davon, was man in Freundschaften erwarten darf, an der Stelle endet.

The bond between queerplatonic partners is not sexual, nor does it necessarily seem romantic to the people in such a partnership. Some people feel differently about their queerplatonic partner than about either a friend or a romantic partner. For others, a queerplatonic partnership is less about a unique feeling and more about acknowledging each other’s importance in a way that is rare for relationships that aren’t explicitly romantic. These relationships transcend the bounds of what is typically found in friendship alone, even when “romantic” as a descriptor seems wrong. The queer part is not about genders, but about queering that social border.

Klingt das nicht großartig? Ein popkulturelles Beispiel für eine queerplatonic partnership (bzw. eine, die man als solche interpretieren könnte): Meredith und Cristina aus Grey’s Anatomy.

Sex sollte egal sein dürfen.

Es gibt inzwischen beinahe ein eigenes Genre von Büchern, die sich nur damit beschäftigen, was es bedeutet, eine Single-Frau zu sein. Die Autorinnen kommen aber praktisch gar nicht zu Visionen davon, wie ein glückliches Singleleben aussieht, weil sie den Beziehungstatus und den vermeintlichen Mangel zuerst nach außen verteidigen und rechtfertigen müssen.

So, nur vielleicht noch schlimmer, stelle ich es mir bei Asexualität vor.

It is not enough to say that everyone should only do what they want. That’s a bromide that anyone can parrot and it ignores the ways that society pressures us to want certain things. Back it up. Show us examples of powerful, enviable women who are openly indifferent to sex, secure in that decision, and not constantly challenged by others.

Wir brauchen Raum dafür, uns um gewisse Themen einfach nicht scheren zu müssen, und ein glückliches Leben führen zu dürfen, an dem nicht grundsätzlich gezweifelt wird – während wir aber auch über Probleme sprechen dürfen, ohne dass diese allein auf den vermeintlichen Mangel abgestellt werden.


We want a place away from sexual pressure. If we fight for visibility and change, it is because we want that pressure to be lifted for others too.

Angela Chen – Ace, p.45

Für mich klingt die Idee, sich im Leben anderen Dingen als Sex zu widmen, überhaupt nicht wie ein Mangel, sondern wie ein riesiger Gewinn.

Ich finde es vollkommen logisch, wie entschieden Angela Chen und andere Personen aus dem Ace-Spektrum dafür einstehen, vor allem Freude und Gemeinschaft zu zentrieren, und dafür auch neue Beziehungsmodelle zu gestalten. Dieser Anspruch klingt für mich wie die Basis für ein glückliches Leben in Gemeinschaft. Darüber kann jede*r nachdenken, ob sie*er nun (auch noch) Sex will, oder nicht.

Wie würde wohl eine gesellschaftliche Utopie aussehen, wenn wir noch mehr Platz für die Ideen aus der Ace Community machen würden?