Die Ehe ist tot! Hat Emilia Roig sie begraben?

Immer, wenn ich Menschen in meinem Alter kennenlerne und sie einen Ehering tragen, bin ich ein bisschen schockiert. Ihr wisst schon: dieser Moment, wenn neben mir ein süßer Typ auf dem Spinning-Bike strampelt und mir beim zweiten verstohlenen Blick der Ring am Finger auffällt.
Man könnte jetzt denken, dass es daran liegt, dass ich frustrierter Single bin. Bin ich manchmal wirklich. Aber ich habe mich ausgiebig damit beschäftigt und realisiert: der Schock sitzt tiefer. Es ist tatsächlich… Ekel. Sorry. Aber lasst mich erklären.
Es geht nicht um diesen ersten Moment, in dem ich über einen interessanten Mann denke: “och, schade, vergeben”. Der Ekel sitzt tiefer, und er hat etwas mit Sätzen wie “if you like it then you should have put a ring on it” zu tun. Mit Frauen am Altar übergeben, fremde Nachnamen annehmen und heteronormativer Kleinfamilie. Wenn andere Millennial-Frauen auf Hochzeiten zu “All the Single Ladies” auf die Tanzfläche stürmen, flüchte ich deshalb auf das nächstbeste Klo. Nicht, dass noch von irgendwo ein Brautstrauß fliegt.
Glücklicherweise hat sich Emilia Roig in ihrem neuen Buch die Ehe vorgenommen und meine diffusen Gefühle zu ihr auf ein argumentatives Fundament gestellt. Sie plädiert für die Abschaffung der Ehe und findet sie so schlecht wie ich sie befremdlich finde.
Damit sich niemand angegriffen fühlt, hier der Disclaimer: not all marriages. Oder doch? Ganz ehrlich, I don‘t care. Es geht hier ums Prinzip und um niemanden persönlich.
Die Ehe ist ein rechtlicher Rahmen für Beziehungen, der gewisse Vorteile mit sich bringt, aber sie ist auch ein religiöses Narrativ und vor allem eine patriarchale Institution.
In “Das Ende der Ehe – Für eine Revolution der Liebe” beleuchtet Emilia Roig zwei relevante Perspektiven: die Auswirkungen der Ehe auf das Ehepaar, und die Auswirkungen der Ehe auf andere Menschen.
Emilia Roig schreibt schonungslos provokant:
“Wer glaubt, dass eine Ehefrau aus Berlin-Prenzlauer Berg, die ihre Kinder mit einem E-Lastenrad zur Montessori-Kita fährt, nichts gemeinsam hat mit ihrer Großmutter, die in den 1940ern heiratete, oder mit einer Kinderbraut aus dem Irak, täuscht sich. Ihre Lebensrealitäten sind zwar drastisch unterschiedlich, und die eine mag mehr Rechte haben als die anderen, aber die Institution, in der sie eingebettet sind, ist die gleiche.”
Ist das überspitzt? Vielleicht, vielleicht aber auch nicht. Vielleicht muss man solche Zusammenhänge herstellen, um den Gedanken zuzulassen, dass die Ehe eben kein harmloses, individuelles Projekt ist, sondern ein systemisches und intersektional relevantes. Und dass „wir“ nicht vor den Schattenseiten sicher sind, nur weil „wir“ Disney-Filme und freie Barfuß-Trauungen in Italien darübergestülpt haben.
Muss man sich wirklich über Symbole der Macht aufregen, die heute nicht mehr so gemeint sind? Ich finde, ja. Dass die Diskussion relevant ist, zeigt sich an den giftigen Reaktionen, sobald man Kritik an der Ehe und ihren Ritualen äußert. Unter den Social Media Beiträgen zum Buch kommen sofort Bettina, Michael, Lisa und Alex auf den Plan und schreien: „Aber ich bin glücklich verheiratet und es war meine Entscheidung, was willst du mir verbieten, du bist doch nur frustriert!!!!!!11“
“Das Patriarchat ist deshalb so mächtig, weil es sich in der intimen Sphäre versteckt und vom Affekt verdeckt wird. Liebesgefühle, emotionale Verbundenheit und Abhängigkeit vermischen sich mit Machtdynamiken und machen sie unsichtbar.”
Dass alles, was die Ehe ursprünglich ausgemacht hat – Besitz und Entrechtung der Frau, Anspruch auf ihren Körper und ihre unbezahlte Arbeit – heute nicht mehr gesetzlich verankert und auch nicht so gemeint ist, hilft leider nur bedingt. Wie Emilia Roig in einer ersten Kernthese herausarbeitet, ist es genau das romantische Verklären der ekligen Vergangenheit, welches es Frauen in Hetero-Ehen noch immer schwer macht, sich gegen Missbrauch und fehlende Gleichberechtigung zu wehren.
Wenn er es gut meint, dann reicht es ja wohl, dass er versucht, im Haushalt zu helfen. Solange er “seine” Frau nicht schlägt und auch zwei Monate Elternzeit nimmt, ist es ja wohl hinnehmbar, dass er ihre Arbeit oft nicht sieht, ihre Sorgen selten ernst nimmt und ihr fürs Kümmern um die Kinder ein Taschengeld zuteilt. Frauen werden (pop)kulturell dazu verleitet, Scheiße hinzunehmen und ihren Selbstwert von Männern abhängig zu machen – und die zwanghafte Zentrierung der Ehe dient als Ausgangspunkt.
“Durch die Amatonormativität und das Gebot der Langlebigkeit interpretieren wir das Engagement innerhalb einer Beziehung als moralischen Imperativ: Wir sollten alles tun, damit die Beziehung bis zum Tod hält. In vielen Fällen heißt das, stoisch zu sein und die Wut, den Frust und die Unzufriedenheit zu verdrängen, um den Frieden zu bewahren – und die Beziehung zu retten. Wenn wir romantische Bindungen über alles andere stellen, sind wir eher bereit, ein Verhalten zu akzeptieren, das wir bei anderen Menschen, etwa Freund*innen, nicht tolerieren würden.”
Das Machtverhältnis in heterosexuellen Beziehungen wird durch die Rechtsform der Ehe verstärkt, und durch die Ideologie der Ehe verschleiert.
Das vielleicht größte Problem mit der Ehe ist, dass sie auch diejenigen schädigen kann, die sich nicht für sie entschieden haben.
“Die psychische Gewalt, die meine Mutter und uns Kinder traf, als meine Eltern zusammen waren, wurde (…) ignoriert. Die Kernfamilie wirkt nach außen immer gesund, weil die Konstellation an sich als Zeichen von Ausgeglichenheit, Stabilität und Normalität gilt. Und in den Fällen, wo sie nach außen nicht ganz gesund wirkt, wird doch davon ausgegangen, dass die Probleme intern zu lösen sind und man sich nicht einmischen sollte. Die Kernfamilie schützt vor der äußeren Welt – im Positiven wie im Negativen. Das Konzept der Privatsphäre schützt die patriarchale Macht.”
Die Abgeschlossenheit der Kernfamilie gefährdet Kinder.
Aber auch andere Menschen leiden unter der rechtlichen und gesellschaftlichen Bevorzugung der Ehe – dem “Hetero-Pärchen-Regime”, wie Emilia Roig es nennt.
“Wie die Rechtswissenschaftlerin Katherine Franke richtig warnt, drohen durch die gleichgeschlechtliche Ehe die Rechte von Paaren in nichtehelichen Familien zu verschwinden. Die Gerichte könnten argumentieren: »Ihr hättet ja heiraten können.(…)« Die Ehe führt dazu, dass Grenzen gezogen werden zwischen denen, die als »echte Familie« zu behandeln sind, und denen, die rechtlich Fremde sind.”
“Die Philosophin Elizabeth Brake fordert eine grundlegende Reform der Ehe. Sie kritisiert, dass die soziale und rechtliche Dominanz verheirateter Paare weder gerechtfertigt noch fair ist. Denn dadurch werden Menschen benachteiligt, die sich diesem Modell nicht anpassen, etwa poly-, asexuelle, nichtmonogame Menschen sowie Pflegenetzwerke mit mehreren Erwachsenen. Zudem wird die Ehe mit moralischen Werten von Versprechen, Engagement, Fürsorge und Treue verbunden, die nicht allein der Ehe vorbehalten sind und auch in anderen Lebensformen gelebt werden. Die hohen Scheidungsraten zeigen, dass die Ehe weder unerlässlich noch ausreichend ist, um diese Werte zu materialisieren. Die Ehe mit ihrem besonderen moralischen Status hat nichteheliche Lebensformen geschwächt, in denen Fürsorge und gegenseitige materielle und emotionale Unterstützung stattfinden – etwa Freundschaften und andere gemeinschaftliche Netzwerke.”
Die Bevorzugung der Ehe führt zur Benachteiligung von alternativen Familienmodellen und Care-Gemeinschaften.
Wer sich außerhalb der Norm der Ehe bewegt, wird nicht nur rechtlich benachteiligt, sondern auch als irgendwie gescheitert oder unfertig angesehen. Keine Lebensform wird so gehyped und gefördert wie die heterosexuelle Paarbeziehung. Auch wenn diese, gemessen an überhöhten Erwartungen, regelmäßig “scheitert”.
“Sich an die Norm zu halten, verleiht ein Gefühl von Glück und ist gekoppelt an soziale Anerkennung, die uns versichert, ein gutes Leben zu führen und alles richtig zu machen.”
Exakt dieses Gefühl sehe ich in den tränennassen Augen der Frauen auf VOX, die sich selbst zum ersten Mal im Brautkleid sehen und leise schluchzend aufatmen. Es ist: Erleichterung. Ich hab‘s geschafft. Endlich bin ich die Person, die ich sein wollte (oder muss?). Zwischen Tüll und Tränen. Zwischen Eheschließung und Versagensgefühlen.
Und das ist es, was mich so anwidert. Dass die Ehe nicht nur eine von vielen gleichwertigen Möglichkeiten ist, sondern ein unangefochtenes, staatlich subventioniertes, romantisch verklärtes Ideal, auf das alle – insbesondere Frauen – hinarbeiten sollen. Obwohl Frauen in der Ehe erwiesenerweise ihre finanzielle Unabhängigkeit und ihre mentale Gesundheit gefährden.
Es ist natürlich einfacher, die Augen zuzumachen und die patriarchalen Muster in unserer Kultur nicht mehr sehen zu wollen. Zu glauben, dass man sie ganz individuell überkommen kann, einfach nur weil man sich liebt. Der Ring am Finger ist für mich im ersten Moment ein Symbol dieser Patriarchatsblindheit. Natürlich ist mein Urteil nicht fair. Ich weiß nicht, was die Beteiligten sich überlegt haben und es geht mich auch nichts an. Aber in einer Welt, in der die Ehe strukturell alle betrifft, ist es schwer, sie nur als individuelle Entscheidung zu sehen.
Wenn euch dieser Artikel lang vorkommt, lasst euch gesagt sein, dass ich nur einen Bruchteil der angesprochenen Themen unterbringen konnte. “Das Ende der Ehe” ist ein beeindruckendes Werk, auch, weil es so dicht an Recherche, Belegen und Bezügen auf feministische Literatur ist. Es wird dabei aber stellenweise ausufernd.
Emilia Roig wollte die Institution der Ehe begraben, hat sich meiner Meinung nach aber etwas in Exkursen verzettelt. Care-Arbeit, sexuelle Befreiung, queere und migrantische Gemeinschaften, Male Gaze, Frauen in der Hookup-Culture, internalisierte Misogynie von Lesben, die politische Absicht hinter dem binären Geschlechtersystem – vieles davon ist relevant für die Kritik an der Ehe, aber mir kam das Buch durch die detaillierte Ausführung zu allen Themen irgendwann vor wie ein Feminismus 101. Muss man in Deutschland immernoch alles erklären? Ich hätte das Buch stärker gefunden, wenn man den Leser*innen ein bisschen mehr Vorwissen oder Transferleistung zugetraut hätte. Eine fokussiertere These wäre einfacher zu bewerten und wiederzugeben.
Stimme ich der Forderung der Autorin zu, dass die Ehe abgeschafft werden soll? Naja. Ich finde erstmal alles diskutierenswert, was Konservative wütend macht. Ich mag provokante Thesen. Lustig finde ich, dass in der Defensive gegen radikale Forderungen oft die Missstände anerkannt werden – nur die Lösung sei „zu extrem“. Cool. Dann wären wir doch schon einen Schritt weiter.
Das Ende der Ehe sehe ich so noch nicht kommen. Dafür bräuchte es noch viel mehr Ideen für neue Formen des Zusammenlebens (und das Ende der CDU).
Vielleicht fange ich damit an, mir mein persönliches Unbehagen zu erlauben und mich auf die Suche nach Alternativen zu begeben. Vielleicht können wir im ersten Schritt die Ideologie der Ehe begraben, damit wir Platz für alles andere haben.
Emilia Roig
Das Ende der Ehe – Für eine Revolution der Liebe
Ullstein, 2023
2 Comments
Hallo Sabine, vielen Dank für den interessanten Beitrag! Die Ehe in diese Richtung kritisch zu betrachten ist mir neu und hat mich sehr inspiriert mal darüber nachzudenken! Danke für den Implus und für deine Buchrezession! Liebe Grüße, Nele
Hey Nele,
vielen Dank für die Rückmeldung <3 Das freut mich sehr.
Liebe Grüße!